"Der Orphanos ist ein Stein in der Krone des römischen Kaisers", schrieb der berühmte Gelehrte Albertus Magnus (um 1193-1280). Das griechische Wort "orphanos" bedeutet auf deutsch so viel wie "Waise". In den mineralogischen Handbüchern des Mittelalters stand "Orphanos" für einen Edelstein von einzigartiger Qualität, also im übertragenen Sinne ein einsames "Waisenkind".
Dieser "Waise" war ein milchweißer Opal, dessen Farbe ins Rote wechseln konnte. Solch ein Opal soll im Mittelalter Jahrhunderte lang Bestandteil der Reichskrone gewesen sein. Er galt als "Leitstein" der Krone.
Sein Leuchten und der Farbenwechsel beeindruckte die Menschen so sehr, dass in mittelalterlichen Texten "der Waise" sogar ein Eigenname für den herausragenden weiß-roten Stein in der Reichskrone wurde.
Es ist unter Wissenschaftlern umstritten, wo genau in der Reichskrone sich der "Waise" befand – ob in der Stirnplatte unterhalb des Kreuzes oder in der Nackenplatte. Mehrere mittelalterliche Texte deuten auf die Nackenplatte hin, zum Beispiel ein Gedicht von Walther von der Vogelweide aus dem Jahre 1198. Zur Krönung Philipps von Schwaben schrieb er: "wem der weise ob sime nacke ste: der stein ist aller fursten leitesterne".
Walther von der Vogelweide besang den Stein der Weisen
Eine einheitliche Rechtschreibung war im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit unbekannt. Daher finden sich die unterschiedlichsten Schreibweisen für den Opal in der Reichskrone. Und auch im deutschen Volksmund ging vieles durcheinander:
So wurde "der Waise" wegen seiner milchig-weißen Farbe mitunter auch "der Weiße" und schließlich – aufgrund des ganz ähnlichen Wortklangs – "der Weise" oder "der Stein der Weisen" genannt.
Dieser edelste und bedeutendste Stein in der Krone ging verloren. Niemand weiß genau, wann und unter welchen Umständen. Es muss irgendwann nach 1350 gewesen sein, denn in diesem Jahr wird er zum ersten und zugleich zum letzten Mal amtlich erwähnt: in einer Inventar-Notiz der kaiserlichen Kanzlei Ludwigs des Bayern zu München bei der Auslieferung der Reichs-Insignien an Kaiser Karl IV.
(Erstveröffentlichung: 2004. Letzte Aktualisierung: 22.03.2020)
Quelle: WDR