Der Beginn der Botschaftsbesetzung
Es war nichts Neues, dass DDR-Bürger über den Zaun der Villa Lobkowicz in Prag kletterten, wo die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland untergebracht war. Üblicherweise handelte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (BMB) für sie die Zusage aus, dass ihr Ausreiseantrag nach einer Rückkehr in die DDR genehmigt werden würde.
In der Regel ließen sich die Menschen darauf ein. Manche Flüchtlinge kaufte die Bundesrepublik auch frei.
Die Flüchtlinge, die ab Juni 1989 in der Botschaft eintrafen, waren allerdings "militanter" – wie der damalige Botschafter Hermann Huber in seinen Erinnerungen schreibt. Sie trauten der DDR-Führung und ihrem Unterhändler, dem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, nicht über den Weg und wollten unter keinen Umständen in die DDR zurück. Im Fachjargon hieß das: Sie setzten sich fest.
Die Lage spitzt sich zu
Die Zahl der Flüchtlinge in der Prager Botschaft stieg deshalb kontinuierlich an. Am Anfang waren die Menschen noch im Dachgeschoss der Villa Lobkowicz untergebracht, das als Notquartier ausgebaut worden war.
Am 25. August stellten Botschaftsmitarbeiter und Flüchtlinge die ersten Zelte und Toilettenanlagen im Garten der Botschaft auf, um Platz für knapp zweihundert Menschen zu schaffen. Zwei Wochen später lebten 434 Flüchtlinge auf dem Gelände, dann 1600, schließlich 4000.
Sie alle mussten versorgt werden. Anfangs kauften die Botschaftsmitarbeiter die Lebensmittel noch in Prag ein, das allerdings wie alle Ostblock-Staaten unter Mangelwirtschaft litt. Dann fuhr der Botschaftsbus täglich ins bayerische Furth im Wald, um genügend Lebensmittel heranzuschaffen sowie Spielsachen und Sportgeräte.
Schließlich steuerten Lastwagen der Bundeswehr die Villa Lobkowicz mit Lebensmitteln, Schlafsäcken und vielen anderen Dingen an. Das Rote Kreuz baute eine Feldküche auf und richtete eine Krankenstation ein.
Auch die Flüchtlinge selbst waren im Einsatz. Die Handwerker unter ihnen reparierten die ständig verstopften Toiletten und Duschen. Andere unterrichteten, kochten und spielten mit den Kindern.
Die von den Flüchtlingen gewählten Sprecher hielten Kontakt zu den Botschaftsmitarbeitern, organisierten Besprechungen und schlichteten Konflikte. Außerdem bewachten sie nachts den Zaun, um weiteren Flüchtlingen beim Hinüberklettern zu helfen.
Trotz des enormen Einsatzes spitzte sich die Lage immer weiter zu. Besonders dramatisch war die hygienische Situation. In der Botschaft gab es lediglich 22 Toiletten und kaum Duschen. Die Kleidung zu waschen, war ebenfalls nicht möglich. Zudem stapelte sich der Müll, zeitweise bestand sogar Seuchengefahr.
Schließlich verwandelte der Regen den Platz um die Zelte in eine Schlammwüste und es wurde kalt. Zu diesem Zeitpunkt schliefen die Flüchtlinge bereits auf den Treppen, immer zwei teilten sich eine Stufe.
Ausreise ungewiss
Dazu quälte die Flüchtlinge die Ungewissheit. Würde es ihnen wirklich gelingen, die DDR-Führung zu zwingen, sie ausreisen zu lassen? Wie lange würde die BRD die Situation in der Botschaft noch mittragen? Was würde passieren, wenn sie in die DDR zurück müssten?
Besonders groß war die Angst unter den Flüchtlingen mit Kindern. Sie fürchteten, dass ihre Familien im Fall einer Rückkehr getrennt würden – die Eltern kämen dann in Haft, die Kinder ins Heim.
Auch die Bundesregierung suchte fieberhaft nach einem Weg, die DDR-Führung dazu zu bringen, einer Ausreise in die BRD zuzustimmen. Der Zeitpunkt dazu war denkbar schlecht. Die DDR stand kurz vor der Feier ihres 40-jährigen Bestehens. Die Ausreise von 4000 DDR-Bürgern in den Westen passte nicht ins Bild.
Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher setzte daher auf die UdSSR. Dort hatte Michael Gorbatschow die Perestroika ausgerufen. Würde die UdSSR einer Ausreise zustimmen, bliebe der DDR keine andere Wahl.
Tatsächlich ging der Plan auf. Edward Schewardnadse, Außenminister der UdSSR, sprach sich am Rande einer UN-Konferenz in New York für die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge in die BRD aus. Entscheidend sollen die vielen Kinder auf dem Botschaftsgelände gewesen sein.
Möglicherweise spielte auch der Gesundheitszustand von Hans-Dietrich Genscher eine Rolle: Er hatte sich nach einem Herzinfarkt auf eigenes Risiko aus der Klinik entlassen, um Edward Schewardnadse in New York treffen zu können.
"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen…"
Als Hans-Dietrich Genscher am Abend des 30. September auf dem Balkon der Villa Lobkowicz den Flüchtlingen ihre bevorstehende Ausreise ankündigte, gingen seine Worte im Jubel unter. Mehr als 4000 Menschen lagen sich in den Armen.
Nur wenige Stunden später starteten die ersten Busse zum Bahnhof, wo Sonderzüge der DDR-Reichsbahn standen. Ziel war die bayerische Stadt Hof.
Die Fahrt führte durch eine gespenstisch leere DDR. An manche Häuser hatten die Bewohner jedoch Bettlaken gehängt mit Inschriften wie "Das Vogtland grüßt die Ausreisenden". Um die Sicherheit der Flüchtlinge zu garantieren, fuhren auch Botschaftsmitarbeiter in den Zügen mit.
Dennoch fürchteten die Menschen noch bis zur Grenze, dass sie auf der Strecke angehalten und aus den Zügen geholt werden könnten.
Doch das geschah nicht. Die DDR-Führung, so vermuten Historiker heute, war zu diesem Zeitpunkt zu sehr mit den Demonstrationen beschäftigt. Der ersten Flüchtlingswelle in der Prager Botschaft folgten noch zwei weitere.
Anfang November reisten jeden Tag zwischen 2000 und 4000 Menschen über Prag und die Prager Botschaft unbehelligt in die Bundesrepublik aus. Am 9. November 1989 fiel schließlich die Mauer.
(Erstveröffentlichung 2013. Letzte Aktualisierung 20.09.2019)