Nationalsozialistische Rassenlehre
Euthanasie in Grafeneck
Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung waren die ersten Opfer des systematischen Tötens der Nationalsozialisten. Die meisten Täter bekamen dafür nach dem Krieg nicht einmal eine Strafe.
Von Kerstin Deppe und Jochen Klink
Von Grafeneck nach Auschwitz
In Grafeneck begann 1940 die sogenannte Aktion "T4". In einem Jahr wurden hier 10.564 Menschen getötet. Dafür brauchte man Personal: Ärzte, Polizisten und Büromitarbeiter, aber auch Köche, Busfahrer und Hausangestellte.
Knapp 100 Menschen waren in der "Mordfabrik auf der Schwäbischen Alb" beschäftigt. Ein Viertel von ihnen kam später in den Vernichtungslagern im Osten zum Einsatz, in denen Millionen europäischer Juden umgebracht wurden.
Drei Beispiele
Christian Wirth. Der Kriminalbeamte beteiligte sich am Aufbau der Büroabteilung in Grafeneck und stieg nach einiger Zeit zum Inspekteur aller sechs Vernichtungsanstalten der Aktion "T4" auf. Später wurde er Generalinspekteur der "Aktion Reinhard".
Wirth unterstanden die Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor. Er setzte sich für den Bau größerer Gaskammern ein und wurde noch während des Krieges in Istrien erschossen. Ob von Partisanen oder eigenen Leuten, ist bis heute unklar.
Kurt Franz. In Grafeneck wurde der SS-Mann als Koch eingesetzt. Später wurde er letzter Kommandant des Konzentrationslagers Treblinka im heutigen Polen.
1965 verurteilte das Landgericht Düsseldorf Franz unter anderem wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 300.000 Menschen zu lebenslanger Haft. In der Urteilsbegründung wurde Franz als "Schrecken des ganzen Lagers" beschrieben. Er habe jüdische Häftlinge misshandelt, geprügelt und getötet, "wenn es ihm Spaß machte und wenn er gerade dazu aufgelegt war".
Dr. Horst Schumann. Der ärztliche Direktor von Grafeneck wurde später Lagerarzt des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Er stand dort an der berüchtigten Rampe, die zum Symbol für Selektion und Vernichtung wurde. Schumann führte in Auschwitz unter anderem Sterilisierungsversuche durch.
1966 wurde Schumann nach langer Flucht verhaftet. Nachdem der Prozess gegen ihn wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden war, wurde er 1972 aus der Haft entlassen. Schumann lebte noch bis 1983 in Frankfurt am Main.
Das Dokumentationszentrum in Grafeneck erinnert an die Gräueltaten
Der Grafeneck-Prozess
Nach jahrelangen Vorbereitungen beschäftigte sich das Schwurgericht Tübingen im Sommer 1949 mit den Gräueltaten von Grafeneck. Von den 80 bis 100 Mitarbeitern landeten nur acht Männer und Frauen auf der Anklagebank – die übrigen waren für das Gericht unauffindbar, an anderer Stelle verurteilt oder tot.
Die acht Angeklagten mussten sich wegen Beihilfe zum Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Fünf von ihnen, darunter zwei Pfleger und zwei Standesbeamte der Euthanasie-Anstalt Grafeneck, wurden freigesprochen. Die drei anderen erhielten Haftstrafen in Höhe von fünf, zwei und eineinhalb Jahren.
Absitzen mussten sie diese jedoch nicht: Dr. Otto Mauthe, "Sachbearbeiter für das Irrenwesen" im württembergischen Innenministerium und zu fünf Jahren verurteilt, konnte die Haft aus "gesundheitlichen Gründen" nicht antreten.
Bei den beiden Direktoren der benachbarten psychiatrischen Anstalt Zwiefalten, Dr. Alfons Stegmann und Dr. Martha Fauser, galt die Strafe als durch die Untersuchungshaft verbüßt.
Herkunftsbuch der Opfer von Grafeneck
Quelle: SWR | Stand: 05.12.2019, 16:50 Uhr