Behinderungen

Gehörlos

Rund 80.000 gehörlose Menschen leben in Deutschland. Viele verständigen sich in der Gebärdensprache, viele beherrschen auch die Lautsprache und lesen von den Lippen ab.

Von Annette Holtmeyer, Britta Schwanenberg

Gebärden oder Lippenlesen?

Jahrhundertelang hatten Gehörlose in der Gesellschaft einen äußerst schweren Stand. Da sie sich kaum mit hörenden Menschen verständigen konnten, galten sie oft als geistig zurückgeblieben.

Das änderte sich erst, als der Pariser Geistliche Abbé Charles Michel de L’Epée im Jahr 1771 die erste Gehörlosenschule ins Leben rief. Er gilt als geistiger Vater der Gebärdensprache.

Gebärde für das Wort "Tanzen" | Bildquelle: picture alliance / SZ Photo / Alessandra Schellnegger

In Deutschland gründete Samuel Heinicke etwa zur gleichen Zeit in Leipzig das "Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen". Hier sollten Gehörlose aber keine Gebärden lernen, sondern das Sprechen und Lippenlesen.

Noch heute wird der gebärdensprachliche Ansatz auch als "französische Methode" und der lautsprachliche auch als "deutsche Methode" bezeichnet.

Viele Eltern gehörloser Kinder entscheiden sich dafür, ihre Kinder "zweisprachig" zu erziehen, also dafür zu sorgen, dass sie möglichst sowohl Gebärden als auch Sprechen beziehungsweise Lippenlesen lernen.

Schwierige Verständigung

Während die Kommunikation unter gebärdenden Gehörlosen kein Problem darstellt, kann die Unterhaltung mit Hörenden für beide Seiten anstrengend sein.

Viele Gehörlose beherrschen zwar auch die gesprochene Sprache, ihre Aussprache kann aber anders und ungewohnter klingen. Umgekehrt ist es für viele Gehörlose schwierig, Hörende in jeder Situation zu verstehen. Selbst wenn sie gut von den Lippen ablesen können, müssen sie sich den Großteil des Gesprochenen zusammenreimen.

Denn eindeutig erfassen lassen sich im Schnitt höchstens 30 Prozent des Gesagten. Denn viele Wörter sind sich einfach zu ähnlich, um sie an der Bewegung des Mundes unterscheiden zu können – zum Beispiel "Mutter" und "Butter" oder "aus" und "Haus". Zu einer stressfreien Verständigung zwischen Gehörlosen und Hörenden tragen Gebärdensprachdolmetscher bei.

Auch die "Sendung mit der Maus" gibt es mit Gebärdensprache | Bildquelle: WDR

Familienleben ohne Worte

In der Bundesrepublik werden im Schnitt täglich zwei gehörlose Kinder geboren. In rund der Hälfte der Fälle ist die Behinderung genetisch bedingt. Doch auch eine Viruserkrankung der Mutter während der Schwangerschaft oder schwere Erkrankungen im Kleinkindalter können eine Gehörlosigkeit bewirken.

Auch wenn Gehörlosigkeit zum Teil vererbbar ist, bekommen viele gehörlose Eltern hörende Kinder. In Fachkreisen werden sie "CodA-Kinder " genannt – der Name stammt aus dem Englischen und ist eine Abkürzung von "Children of deaf Adults" ("Kinder von gehörlosen Eltern"). Das Filmdrama "Coda" beschäftigt sich mit diesem Thema und gewann 2022 den Oscar als "Bester Film".

In der Regel wachsen CodA-Kinder zweisprachig auf: Sie lernen dann die Gebärdensprache von ihren Eltern und zusätzlich die Lautsprache von hörenden Verwandten, Freunden oder Geschwistern. Meistens werden sie schon früh zu Gebärdensprachdolmetschern für ihre Eltern.

Wird ein gehörloses Kind in eine hörende Familie geboren, sollten sich die Eltern auf jeden Fall beraten lassen. Wichtig ist, dass die Kinder früh gefördert werden. Hilfe erhalten Eltern dabei von Frühförderzentren oder auch vom zuständigen Gesundheitsamt.

Gehörlosen-Kultur

Viele Gehörlose empfinden ihre Gehörlosigkeit nicht als Behinderung, sondern sie sehen sich als Teil einer kulturellen und sprachlichen Minderheit mit vielfältigen Aktivitäten.

Es gibt Gehörlosenclubs, Gehörlosentheater, Gebärdenchöre, das Gebärdensprach-Kulturfestival und vieles mehr. In Bonn kürt der Gehörlosenkarnevalsverein jedes Jahr ein eigenes Prinzenpaar.

Ein Gebärdenchor aus Leipzig | Bildquelle: picture-alliance / ZB / Thomas Schulze

Auch Hörende haben in der Gemeinschaft der Gehörlosen Platz, vorausgesetzt, sie beherrschen die Gebärdensprache. Einige Künstler, wie beispielsweise die hörende Berliner Sängerin Kerstin Rodger, beziehen die Gebärdensprache in ihre Kunst mit ein.

Eine wichtige Rolle spielt auch der Gehörlosensport. Die wichtigsten internationalen Wettkämpfe werden bei den "Deaflympics" ausgetragen, die seit 1924 regelmäßig alle zwei Jahre stattfinden. Früher hießen sie "Gehörlosen-Weltspiele" und wurden erst in "Deaflympics" umbenannt, als sie vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) anerkannt wurden.

(Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 01.08.2024)