Parallelen zwischen Dichtung und Wirklichkeit
Besonders betroffen fühlt sich ein enger Freund Jerusalems: Johann Wolfgang von Goethe. Er ist jung und selbst in eine Frau verliebt, die einem anderen versprochen ist. Ihr Name ist Charlotte Buff. Sie wird als "Lotte" in die Literaturgeschichte eingehen.
Anderthalb Jahre nach Jerusalems Tod verfasst Goethe seinen Roman "Die Leiden des jungen Werthers". Das Buch besteht aus Briefen, die Werther seinem Freund Wilhelm schreibt. Ihm schildert er seine unerfüllte Liebe zu Lotte, einer keuschen Ehefrau, die in vielem wohl jener Charlotte Buff ähnelt, die für Goethe unerreichbar bleibt.
Werther hingegen ähnelt in vielem – vor allem in seiner unkonventionellen Kleidung – Goethes Freund Carl Wilhelm Jerusalem. Wie Jerusalem greift Werther am Ende zur Pistole und erschießt sich. Lakonisch schildern die letzten Zeilen des Romans die gesellschaftliche Ächtung von Selbstmördern: "Er wurde von Handwerkern getragen. Kein Geistlicher begleitete ihn."
Bestseller mit Kultcharakter
Der Briefroman wurde in ganz Europa ein Bestseller. Schon ein Jahr später gab es eine französische Übersetzung. Napoleon Bonaparte nahm ihn auf seinen Ägyptenfeldzug mit, Berliner Garderobenmädchen und Kammerdiener kannten zumindest die gekürzte Volksbuchfassung.
Nach England kam der Roman im Jahr 1779. In Italien, den Niederlanden, Skandinavien, Serbien und Russland – überall kannte man Ende des 18. Jahrhunderts den "Werther". In einem Londoner Wachsfigurenkabinett konnte man eine Darstellung von Lotte sehen, wie sie am Grabe Werthers trauert. Junge Männer kleideten sich wie Werther, Frauen parfümierten sich mit "Eau de Werther". Werther und Lotte waren allgegenwärtig als Nippes-Figuren oder auf Porzellangeschirr.
Schon bald begannen junge Menschen, es ihrem Idol Werther gleichzutun: Ein junger Schwede erschoss sich – neben ihm lag Goethes Roman aufgeschlagen. Eine Adlige ertränkte sich – in ihrer Rocktasche fand sich der "Werther". Ein junger Schusterlehrling stürzte sich aus dem Fenster – mit "Werther" in der Weste. Eine junge Engländerin brachte sich in ihrem Bett um – unter dem Kopfkissen lag Goethes Buch.
Bei einer Strafe von 10 Talern untersagte die "Churfürstlich Sächsische Buchzensurbehörde" schon ein Jahr nach Erscheinen den Verkauf des "Werther". 1776 fiel Goethes Buch der österreichischen Zensur zum Opfer und wurde im gleichen Jahr auch im Königreich Dänemark verboten.
Goethe reagierte auf die Selbsttötungswelle, indem er in der zweiten Auflage Passagen in den Roman einfügte, so schrieb er von Werthers "schlimmer Krankheit". Der zweite Teil des Romans begann jetzt mit einer Warnung an diejenigen, die mit Werther leiden:
"Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;
Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner Höhle;
Sei ein Mann und folge mir nicht nach."
Das romantische Zeitalter
Goethes "Werther" erschien 1774 in einer Zeit, zu der sich in gebildeten Kreisen Europas die Idee des "romantischen Selbstmords" (Zitat Georges Minois) durchsetzte. Es begann damit, dass die Zeitungen 1770 über die "Liebenden von Lyon" berichteten: Der unheilbar kranke Waffenmeister Faldoni beging mit seiner Geliebten in einer Kapelle bei Lyon Selbsttötung. Sie hatten sich aneinander gefesselt und sich jeweils eine Pistole ans Herz gedrückt. Die Pistolenabzüge waren durch ein Band mit den Fesseln verbunden. Das Paar starb bei seiner ersten etwas heftigeren Bewegung.
Ihre Selbsttötung inspirierte Schriftsteller zu Romanen und Erzählungen. Man redete nicht über die moralische Verwerflichkeit ihrer Tat, sondern über die Leidenschaft der Liebenden. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau dichtete zu diesem Ereignis:
"Die Frömmigkeit sieht hier den Frevel nur. Das Gefühl bewundert, und die Vernunft verstummt."
Im selben Jahr wurde ein weiterer Selbstmörder zum romantischen Idol. Der 17-jährige Dichter Thomas Chatterton vergiftete sich in seiner Dachkammer. Obwohl er bereits für seine Dichtkunst bewundert worden war, hatte er in bitterer Armut gelebt und seine Situation nicht mehr ausgehalten. Die Nachwelt huldigte ihn als junges, verkanntes Genie.
Die "romantisch-heldenhafte" Selbsttötung gelangte auch auf die Bühne, zum Beispiel im Trauerspiel "Emilia Galotti" von Gotthold Ephraim Lessing, das zwei Jahre vor Goethes "Werther" erschien. Emilia, die Heldin in Lessings Stück, will sich umbringen, weil sie den Prinzen heiraten soll, der am Tod ihres Geliebten die Schuld trägt. Ein Versuch scheitert, doch dann überzeugt sie ihren Vater, die Ehre der Galottis zu retten und sie zu töten.
Carl Wilhelm Jerusalem, dessen Selbsttötung 1772 die vornehme Gesellschaft erschütterte, war auch eng mit Lessing befreundet. Eine Ausgabe von "Emilia Galotti" stand in dem Zimmer, in dem er sich erschoss.
Jerusalems Freund Goethe war ebenfalls von Lessing beeinflusst. Auch Goethes Romanfigur Werther hat in seiner Kammer Lessings Trauerspiel im Bücherregal stehen. Die damalige Gesellschaft hatte für sich romantische Gefühle und Empfindsamkeit als Lebensgefühl entdeckt. Dazu passte es, Selbstmörder schaudernd zu bewundern.
Unabhängig davon, ob sie nun real gelebt hatten oder Bücher- oder Bühnenhelden waren, glaubte man, in ihnen besonders viel Sensibilität und Liebesfähigkeit zu finden. Doch nicht die Selbstmörder waren romantisch – sie starben wohl immer noch zumeist aus nackter Verzweiflung. Erst ihre Zeitgenossen machten aus ihnen "Helden des Gefühls", in die sich die eigenen Träume von Liebe, Leidenschaft und Größe hineininterpretieren ließen.
Die neuen Leiden des jungen W.
Goethe kleidete nicht nur das romantische Gefühl seiner Zeit in Sprache, sondern übte mit "Werther" auch Kritik an der Enge und Unbeweglichkeit der Ständegesellschaft seiner Zeit. Der DDR-Schriftsteller Ulrich Plenzdorf griff diesen gesellschaftskritischen Aspekt auf, als er 1972 "Die neuen Leiden des jungen W." schrieb.
Plenzdorfs Held ist der 19-jährige Lehrling Edgar Wibeau, ein Außenseiter in seiner Anstreicherbrigade. Er entdeckt in einem Klohäuschen eine Reclam-Ausgabe von Goethes "Werther".
Mehr und mehr vergleicht Edgar sein Leben mit Werthers Leben. Auch er erlebt eine unglückliche Liebe und stirbt am Ende. Sein Tod ist allerdings eher ein unglücklicher Zufall: Seine Erfindung, von der er sich großen Erfolg erhofft – ein "nebelloses Farbspritzgerät" –, explodiert.
Die Zeit für die romantisch-tragische Selbsttötung war also längst vorbei, jedenfalls literarisch. Plenzdorfs bissig-humorvoller Werther war sowohl als Theaterstück als auch als Film unter der Regie von Eberhard Itzenplitz (1976) ein großer Erfolg.
Der Werther-Effekt
Wie weit beeinflussen Romane, Zeitungsberichte, Filme und andere Medien die Entscheidung eines Menschen sich umzubringen? Wann immer diese Frage untersucht wird, sprechen Soziologen vom "Werther-Effekt". Ganz offensichtlich fand die Selbsttötung der Figur Werther Nachahmer. So klar sind die Zusammenhänge selten.
Einen bundesdeutschen "Werther-Effekt" löste 1981 die ZDF-Serie "Tod eines Schülers" aus. Jeweils am Anfang der sechs Folgen steht die gleiche Szene: Ein 19-jähriger Schüler wirft sich vor einen Zug. Dann werden in Rückblenden seine letzten Wochen vor der Selbsttötung geschildert, Folge für Folge aus einer anderen Sicht: aus der Sicht der Eltern, der Freundin, der Freunde und der Lehrer. Eine sensible Studie über die Motive eines Jugendlichen, sich umzubringen.
Eine Untersuchung der beiden Psychiater Schmidke und Häfner aus dem Jahr 1986 zeigte, dass es nach der Ausstrahlung der Serie und nach ihrer Wiederholung 1982 mehr Selbsttötungen gab als üblich. Besonders in der Gruppe der Männer zwischen 15 und 29 töteten sich nahezu doppelt so viele selbst wie im übrigen Untersuchungszeitraum von 1976 bis 1984. Zudem führten sie genau das aus, was auch der Schüler im TV-Drama getan hatte: Sie warfen sich vor den Zug.
Strittig ist dennoch bei allen Untersuchungen zum "Werther-Effekt", ob durch Medienberichte oder Filme tatsächlich Selbsttötungen ausgelöst werden.
Ein weiterer "Werther-Effekt" wurde Mitte der 1980er-Jahre in Wien beobachtet, als U-Bahn-Selbsttötungen zunahmen. Man entdeckte, dass die spektakulären Zeitungsartikel über diese Suizide Menschen zur Nachahmung reizten.
Als sich Stadtverwaltung und Journalisten 1987 auf eine andere Form der Berichterstattung einigten und in den kurzen sachlichen Meldungen auch das Sorgentelefon des Wiener Krisenzentrums erwähnt wurde, sank sofort die Anzahl der U-Bahn-Selbstmörder und blieb auf niedrigem Niveau. Viele Medien berichten deshalb heute nur in Ausnahmefällen über Selbsttötungen, um keine Nachahmer zu animieren.
(Erstveröffentlichung 2003. Letzte Aktualisierung 13.01.2020)