Kinderliteratur
Der Struwwelpeter
Die Geschichten im Struwwelpeter zeigen keine heile Kinderwelt, sondern sind grotesk, grausam und komisch. Bis heute ist das Buch umstritten, was seinem Erfolg keinen Abbruch tut: Der Struwwelpeter wurde in knapp 40 Sprachen und rund 60 Dialekte übersetzt.
Von Annette Holtmeyer, Britta Schwanenberg
Skandal- und Meisterwerk eines Nervenarztes
Im Jahr 1844 macht sich der Kinder- und Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann auf die Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn. Er sucht nach einem Buch, das Kindern in diesem Alter Freude macht.
"Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen", schreibt Hoffmann.
Da kauft er stattdessen lieber einen Stapel Papier und erklärt seiner erstaunten Ehefrau, dass er selbst ein Buch für seinen Jungen verfassen will. Schließlich hat er in seiner Praxis ohnehin immer wieder mit wenigen Strichen Geschichten für seine kleinen Patienten gezeichnet, um sie zu beruhigen und abzulenken.
Auf dem Weihnachtstisch liegt dann die erste Fassung des "Struwwelpeters". Das Buch kommt auch bei erwachsenen Freunden und Bekannten so gut an, dass Hoffmann es schließlich veröffentlicht.
1845 erscheint es noch unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb und dem Titel "Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3-6 Jahren". Seit der 4. Auflage trägt es den Namen "Struwwelpeter". 1858 werden die Zeichnungen nochmal überarbeitet.
Geteilte Reaktionen in der Öffentlichkeit
Schon zu Hoffmanns Lebzeiten ruft das Buch bei Kritikern und erwachsenen Lesern sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Viele Eltern berichten Hoffmann persönlich begeistert davon, welche Freude ihre Kinder an dem Buch hätten und dass die Kleinen schon nach kurzer Zeit alle Verse auswendig könnten.
Andere sind entsetzt über das "skandalöse" Werk, das so ganz anders ist als die niedlichen, harmlosen Geschichtchen, die man bis dahin für kindergeeignet hielt.
"Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes", zitiert Hoffmann einen Kritiker. Er hält dagegen, dass es nun mal gerade die grausigen, übertriebenen Vorstellungen seien, welche die Kinderseele berührten.
Wer Kindern nur "absolute Wahrheiten" zumuten wolle, müsse schließlich auch Märchen wie Rotkäppchen oder Schneewittchen verbieten, was aus seiner Sicht am Ende dazu führe, dass die Kinderseelen "elend verkümmern".
Struwwelpeters Erben
Noch zu Hoffmanns Lebzeiten kam "Die Struwwel-Liese" von Dr. Julius Lüthje heraus, ein Gegenstück zum Struwwelpeter, speziell auf Mädchen zugeschnitten, das ähnlich drastisch wie das Original zeigt, welche bösen Folgen Naschsucht, Neid oder Eitelkeit haben können.
Weitere Werke dieser Machart wie die "Struwwelpetra" oder "Struwwelchen" sind zu Recht in Vergessenheit geraten.
Neu aufgelegt wurde dagegen eine der bösesten Struwwelpeter-Parodien: der englischsprachige "Struwwelhitler", der 1941 unter dem Pseudonym "Doktor Schrecklichkeit" veröffentlicht worden war.
Die damals schon recht betagten britischen Brüder Robert und Philip Spence aus Newcastle, die zu den besten Illustratoren ihrer Zeit gehörten, verspotten darin die Nazi-Größen. Hitler tritt als "Zappel-Adolf" auf, "Gobby" alias Joseph Goebbels werden die Daumen abgeschnitten, und der italienische Diktator Mussolini wird zum "Musso-Guck-in-die-Luft".
Auch Stalin taucht als großer Nikolaus auf, der die bösen Buben Hitler, Goebbels und Ribbentrop in sein Fass mit roter Tinte tunkt, weil sie den armen Bolschewik gehänselt haben. Die zweisprachige Neuausgabe des "Struwwelhitlers" vom Berliner Autorenhaus kam 2005 auf Deutsch und Englisch heraus.
Dass die Zahl der Struwwelpeter-Nachfolger bis heute nicht abreißt, zeigt unter anderem die Adaption "Der WM-Peter – oder sportliche Geschichten und drollige Tore" aus dem Jahr 2006. Die Version zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland mit Figuren wie "Jürgen-(Klinsmann)-Guck-in die Luft" und Erzählungen wie "Die gar traurige Geschichte mit dem Fehlpass" dürfte allerdings vor allem Fußballfans begeistern.
Der Anti-Struwwelpeter
Bei den Verfechtern der antiautoritären Erziehung und den Anhängern der 68er-Bewegung war und ist er Kult: "Der Anti-Struwwelpeter" des Satirikers Friedrich Karl Waechter aus dem Jahr 1970.
Während in Hoffmanns Original die Kinder für ihre Dummheiten büßen müssen, sind es im Anti-Struwwelpeter die Eltern oder die Autoritäten, die am Ende dumm dastehen.
So zum Beispiel in Waechters Suppenkaspar-Version: Der wütende Vater, der den ungehorsamen Sohn mit Gewalt zwingen will, seine Suppe zu essen, stolpert und reißt das Tischtuch mit allen Speisen herunter.
"Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum", heißt es auch hier, nur dass der stumme Tadel weder Suppenkaspar noch Zappelphilipp, sondern eher dem tobenden Vater zu gelten scheint.
"Nein, meine Suppe ess' ich nicht!" schreit der Suppenkaspar
Nicht viel besser ergeht es dem Schneider, der auch bei Waechter mit der Schere bewaffnet ins Zimmer stürzt, um den nuckelnden Kindern die Daumen abzuschneiden.
"Bauz! Da geht die Türe auf,
und herein in schnellem Lauf
springt der Schneider mit der Schere.
Sieh! er rutscht und fällt ins Leere
über ein paar Schinkengrieben
die mit Seife eingerieben,
schlägt er nun der Länge lang
gegen Mutters Ofenbank."
Die Drohungen der Eltern versetzen die Kinder nicht mehr in Schrecken, stattdessen wehren sie sich erfolgreich. Die grotesken Zeichnungen lassen die strengen Erzieher und deren – in den Augen des Verfassers – überkommene pädagogische Ideale doppelt lächerlich erscheinen.
Natürlich scheiden sich auch beim "Anti-Struwwelpeter" die Geister. Konservative Leser lehnen die "Bibel" der antiautoritären Erziehung strikt ab.
Das Erfolgsgeheimnis der "Lustigen Geschichten"
Es gibt die unterschiedlichsten Erklärungsansätze dafür, was die Struwwelpeter-Geschichten trotz ihrer überkommenen erzieherischen Botschaft bis heute so anziehend macht.
Einig sind sich die Kritiker darin, dass ein besonderer Reiz in den grotesk überzeichneten Illustrationen liegt, die den bürgerlichen Alltag der Kinder unterschwellig ins Lächerliche ziehen. Auch die moralische Botschaft des Werks ist bei näherem Hinsehen nicht ganz so eindeutig, wie es zunächst scheint.
Auch der wilde Niklas fasziniert Kinder bis heute
Zwar sollen die kleinen Leser sicher vor den Folgen kindlichen Leichtsinns und Ungehorsams gewarnt werden. "Das Kind erfasst und begreift nur, was es sieht", schreibt Hoffmann 1876. Aber wie passt "Die Geschichte vom wilden Jäger", der am Ende vor dem Häschen mit dem Gewehr in der Hand flüchten muss, in dieses Schema?
Auch die Einsamkeit der Kinder in den Stuben und die Tatsache, dass die Eltern im Struwwelpeter fast ausnahmslos durch Abwesenheit glänzen, passen nicht ins Muster der puren Abschreckungsmoral.
Im "Zappelphilipp", der einzigen Erzählung, in der die Familie zusammenkommt, herrscht von Beginn an eine beklemmende Stimmung: Der Vater spricht zum Sohn "in ernstem Ton"; und "die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum". So dürften die feinen Risse in der Fassade der bürgerlichen Welt zum Erfolgsgeheimnis des Buches gehören – zumindest in den Augen der Erwachsenen.
Kinder denken weniger kompliziert. "Für mich sind die Geschichten einfach so aufregend", erklärt beispielsweise eine Vierjährige auf die Frage, was ihr am "Struwwelpeter" gefällt.
Tatsächlich entwickeln alle Geschichten sehr schnell eine unglaubliche Dynamik. Gerade die grausamen Details wirken wohl auf die kleinen Leser faszinierend und abstoßend zugleich.
Die Erzählungen sind aber so überzogen, dass auch Kinder ahnen, dass sie mit der Realität wenig zu tun haben. "Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen", schreibt Hoffmann. Und er hatte offenbar mit seiner Annahme Recht, dass gerade diese vielen Kindern gefallen.
(Erstveröffentlichung: 2007. Letzte Aktualisierung: 10.08.2020)
Quelle: WDR