Die deutschen Siedler
Im 12. und 13. Jahrhundert kam es in Europa zu einer großen Siedlungsbewegung von West nach Ost, während der zahlreiche Deutsche nach Böhmen und Mähren zogen. Grund dafür waren revolutionäre Neuerungen in der Landwirtschaft, wie etwa die Erfindung der eisernen Egge oder die Einführung der Dreifelderwirtschaft.
Diese Veränderungen machten es möglich, größere Gebiete zu bewirtschaften und damit höhere Erträge zu erzielen. Doch um davon wirklich profitieren zu können, brauchten die Landwirte auch größere, unbesiedelte Flächen, und die gab es unter anderem noch in Böhmen und Mähren.
Werber zogen durch die Lande, um Siedlungswillige aus den deutschen Gebieten dazu zu bewegen, sich im Osten niederzulassen. Den Neuankömmlingen winkten durch das damals geltende deutsche Siedlerrecht zahlreiche Vorteile wie zum Beispiel zehn Jahre Steuerfreiheit. Die ersten Deutschen ließen sich im 12. Jahrhundert im Süden Mährens nieder, weitere Auswanderer folgten nach Nordmähren, in den Böhmerwald und ins Egerland.
Deutsche Gründungswelle in Tschechien
Die deutschen Siedler ließen sich in zuvor gerodeten Waldgebieten nieder. Einen echten Kontakt oder gar eine Vermischung mit den tschechischen Einheimischen gab es aber zunächst nicht. Im Gegenteil: Es entstanden zahlreiche deutsche Siedlungsinseln, die nur durch ein paar schmale Schneisen im ansonsten dichten Wald miteinander verbunden waren.
Dies änderte sich aber schon recht bald, als mit der Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge auch der Handel bedeutend zunahm und die ersten Städte im neuen Siedlungsgebiet wuchsen. Die rund 100 Städte, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Böhmen und Mähren entstanden, wurden fast alle unter deutschem Einfluss und nach deutschem Recht gegründet.
Deutsche Gründung Cesky Krumlov - früher Böhmisch Krumau
Industrie und Bevölkerung
Durch das Geschlecht der Habsburger, das ab 1526 den böhmischen Thron innehatte, blieb der deutsche Einfluss in den tschechischen Gebieten über mehrere Jahrhunderte groß. Lange Zeit war Deutsch Amts- und Unterrichtssprache.
Zudem waren die Tschechen im ab 1867 bestehenden Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn schlechter gestellt als die Deutschen. Ende des 19. Jahrhunderts lebten in den Gebieten des heutigen Tschechiens etwa 2,9 Millionen Deutsche – mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung.
Inzwischen machte die um sich greifende Industrialisierung auch nicht vor Böhmen und Mähren Halt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung rasant, immer mehr Industriebetriebe wie Maschinen- und Waffenfabriken öffneten ihre Tore.
Doch die Tschechen profitierten nur bedingt von diesem Aufschwung, da besonders die Schwerindustrie größtenteils unter deutschem Einfluss stand. Einen Boom erlebten die überwiegend deutsch besiedelten Gebiete im Westen und Nordwesten des Landes, die einen regelrechten Industriegürtel bildeten.
Die Industrie boomt - auch in Tschechien
Die Spannungen
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Tschechen nicht mehr bereit, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zurücksetzung weiter zu ertragen. Einer der geistigen Führer der neuen Nationalbewegung war der Historiker František Palacký, der mit seinem Werk "Geschichte von Böhmen" viel zum tschechischen Geschichtsbewusstsein beitrug.
Später trat Palacký auch politisch in den Vordergrund und lehnte demonstrativ eine Einladung zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main ab. Als Gegengewicht zu dieser Versammlung wurde in Prag ein Slawenkongress organisiert.
Bis zum Ende des Jahrhunderts verschärften sich die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen immer mehr, wiederholt musste in Prag wegen Ausschreitungen der Ausnahmezustand ausgerufen werden. Der böhmische Landtag war wegen der Streitigkeiten arbeitsunfähig und wurde schließlich 1913 von der österreichischen Regierung aufgelöst.
Gemeinschaft der Sudetendeutschen
Nach der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg beanspruchte Edvard Beneš, der Außenminister der 1918 gegründeten Tschechoslowakei (CSR), auch die deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens für den neuen Staat.
Die Deutschen stellten in der CSR zwar mit 28 Prozent den zweitgrößten Bevölkerungsanteil. Dennoch waren sie weder an der Ausarbeitung der neuen Verfassung noch an der ersten CSR-Regierung beteiligt.
In den folgenden Jahren vollzog sich in den Köpfen der Deutschen ein Sinneswandel. Sie fühlten sich weniger als Deutschböhmen oder -mähren, sondern vielmehr als Gemeinschaft der "Sudetendeutschen", benannt nach einem Gebirgszug im Norden der Tschechoslowakei.
Vertreten ließen sie sich durch die Sudetendeutsche Partei (SdP), die sich Ende der 1930er Jahre immer stärker für einen Anschluss der deutsch besiedelten Gebiete ans Deutsche Reich engagierte.
Protektorat Böhmen und Mähren
Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war die Tschechoslowakei von deutschen Gebieten umklammert. Die Sudetendeutschen forderten nun unverhohlen die Abspaltung von der CSR. "Wir wollen heim ins Reich!" verlangte SdP-Politiker Konrad Henlein, und auch der deutsche Diktator Adolf Hitler wollte sich die Sudetengebiete einverleiben.
Hitler und SdP-Politiker Henlein (rechts)
Mit dem Münchener Abkommen vom 28. September 1938 wurde der deutsche Wunsch erfüllt. Kurz darauf marschierten die Truppen Hitlers ins neue Reichgebiet ein. Edvard Beneš, der inzwischen Präsident war, ging daraufhin ins Exil nach London.
Hitler ging es nun um die "Erledigung der Rest-Tschechei". Bereits im März 1939 ließ er seine Truppen die übrigen Gebiete Böhmens und Mährens besetzen und zum "Protektorat" machen. Die Tschechen galten unter der deutschen Besatzung als minderwertig und wurden sowohl politisch als auch kulturell unterdrückt.
Eines der schrecklichsten deutschen Kriegsverbrechen auf tschechischem Boden ereignete sich im Dorf Lidice. Als die Bewohner verdächtigt wurden, Agenten der tschechischen Exilregierung zu verstecken, wurden alle Männer des Dorfes erschossen, Frauen und Kinder verschleppt. Lidice wurde dem Erdboden gleichgemacht und aus allen Karten und Verzeichnissen gestrichen.
Deutsche Soldaten im zerstörten Lidice
Vertreibung und erneute Annäherung
Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches traf der tschechische Zorn die sudetendeutschen Gebiete und ihre Bewohner. Die Deutschen mussten ihre Häuser verlassen und ihren Besitz zurücklassen. Zur Kennzeichnung ihrer Nationalität waren sie verpflichtet ein "N" an der Kleidung zu tragen, das für "Nemec" – Deutscher–- stand.
Nicht selten waren die Vertriebenen brutaler Gewalt ausgesetzt. Das wohl schlimmste Massaker ereignete sich in Aussig, wo 2700 Deutsche innerhalb weniger Stunden getötet wurden.
Insgesamt wurden etwa 2,9 Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Der aus dem Exil zurückgekehrte Edvard Beneš legitimierte die Verbrechen der Vertreibung nachträglich durch das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946. Dieses besagte, dass eine sonst strafbare Handlung, die zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 begangen worden war, straffrei blieb, wenn sie zur Freiheit der Tschechoslowakei oder zur Vergeltung gegenüber den Besatzern beigetragen hatte.
Dieses und weitere Gesetze zur Enteignung und Ausweisung der Deutschen gingen als die Beneš-Dekrete in die Geschichte ein.
Die Dekrete belasteten viele Jahrzehnte die deutsch-tschechischen Beziehungen, bis heute sind sie rechtskräftig. Dennoch verbesserte sich das Verhältnis der beiden Länder besonders nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs zusehends.
Ein Höhepunkt dieser positiven Entwicklung war die Deutsch-Tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997. In dieser entschuldigten sich einerseits die Deutschen für die Ereignisse nach 1938 und andererseits die Tschechen für die Verbrechen der Vertreibung.
2,9 Millionen Deutsche wurden vertrieben oder flohen
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 24.08.2021)
Quelle: WDR