Literat der Widersprüche
Viele bedeutende Schriftsteller lassen sich einer Stilrichtung zuordnen, äußerten eine direkte Meinung zu politischen Themen und schrieben ihre Werke in einer halbwegs logischen Abfolge nieder. Nicht so Franz Kafka. Das meiste über sein Leben und seine emotionalen Widersprüche weiß man aus seinen erhaltenen Tagebüchern und Briefen.
Franz Kafka wurde 1883 in Prag in eine jüdisch-bürgerliche Kaufmannsfamilie geboren. Sein Leben, auch schon seine Jugend, war geprägt durch Widersprüche. Als Prager wuchs er zwischen Deutschen und Slawen auf, zwischen Juden und Katholiken, zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Traditionen.
Sein Lebensmittelpunkt war zeitlebens Prag. Zwar reiste er wegen diverser Krankheiten in einige tschechische Kurorte, es zog ihn aber immer wieder zurück in sein jüdisches Heimatviertel. Trotz seiner vielen sozialen Kontakte lebte er psychisch sehr isoliert, hatte nur wenige enge Freunde, dafür viele kurze Beziehungen zu Frauen. In einem seiner Briefe nennt er sich "menschenscheu und ängstlich"
Auch Kafkas Wirkungsradius war relativ klein. Alle Gebäude, in denen er schrieb und arbeitete, während er sich in Prag aufhielt, liegen in der Innenstadt und sind innerhalb von Minuten zu erreichen.
Trotz dieser Enge war er ein getriebener, sprunghafter Charakter, was man auch an seinen Werken erkennen kann. Er schrieb sie selten direkt fertig, schob eine andere Arbeit ein, änderte Teile, vernichtete ganze Manuskripte.
Schwacher Sohn, gleichgültiger Vater
Auch Kafkas Beziehung zu seinem Vater Hermann strotzt vor Widersprüchlichem. Unter dem unterkühlten Verhältnis litt Kafka sein Leben lang, als einziger Sohn wurde er von seinem Vater in seinem literarischen Streben nicht ernst genommen.
Er entwickelte sich unter seinem herrschsüchtigen und pseudomoralischen Vater, wie er ihn selbst nannte, zu einem ängstlichen und wankelmütigen Erwachsenen. Trotzdem wollte er seinen Erzeuger immer beeindrucken. Dieser hielt ihn für schwach und gefühlskalt, Kafka wiederum betrachtete den Vater als gleichgültig und oberflächlich.
Das schwierige Verhältnis verarbeitete Kafka auch in einigen seiner Werke, vor allem in der Kurzgeschichte "Das Urteil". Sie handelt von Georg Bendemann, dem Sohn eines reichen Kaufmanns.
Der übermächtige Vater kontrolliert die Freundschaften und die Liebesbeziehung seines Sohnes und ist nie zufrieden mit seinen Entscheidungen und Leistungen. Nach einem Streit, in dem der Kaufmann seinen Sohn symbolisch zum Tode verurteilt, stürzt sich Georg in einen Fluss und stirbt.
"Das Urteil", das Kafka in nur einer Nacht schrieb, ist eines der am häufigsten interpretierten deutschsprachigen Werke der Literatur.
Der kafkaeske Stil
Franz Kafka starb 1924 schwer krank. Sein einziger langjähriger Freund Max Brod veröffentlichte nach seinem Tod gegen Kafkas zu Lebzeiten erklärten Willen seine unvollendeten Werke.
Ihr Stil wird als "kafkaesk" bezeichnet, ein bisschen surrealistisch, expressionistisch, ironisch. Aber auch eine Mischung aus reiner Fantasie, Philosophie, Psychologie, Religion, Pädagogik und seiner eigenen Biografie findet man darin.
Ein regelmäßig wiederkehrendes Motiv bei Kafka ist das der Entfremdung. Seine Protagonisten erkennen sich selbst nicht wieder, verwandeln sich, fühlen sich fremd im System ihrer Umwelt oder sind Erzähler, werden aber nicht eingeführt oder beschrieben.
So auch in einem seiner bekanntesten Werke: "Die Verwandlung". Hier wacht der Protagonist Gregor Samsa morgens auf und hat über Nacht die Gestalt eines menschengroßen Insekts angenommen. In diesem fremden Körper wird ihm die Alltäglichkeit seines Lebens erst bewusst. Weil er aber nicht in die Normalität zurückkehren kann, wird er schwer krank und stirbt letztlich, was für seine Familie eine Entlastung darstellt.
Unpolitisch? Antikapitalistisch? Unsozialistisch?
Aus Kafkas vielen Fragmenten lässt sich nur schwer eine eindeutige politische Meinung herauslesen. Es gibt keine überlieferten direkten Aussagen Kafkas zur zeitgenössischen Politik, was unter den historischen Umständen wirklich verwunderlich ist.
Zu seinen Lebzeiten spaltete sich die Tschechoslowakei vom Großreich Österreich-Ungarn ab, aus einer Monarchie wurde eine Republik. Gleichzeitig wuchsen im Zuge der industriellen Entwicklung auch in der Tschechoslowakei kapitalistische Gedanken.
Kafka arbeitete bei der Arbeiter-Unfall-Versicherung und bekam so täglich Einblick in die unterdrückte tschechische Arbeiterklasse.
Nach dem Ersten Weltkrieg kümmerte er sich ausdauernd um Heimkehrer und Vertriebene. Anfangs war er dem sozialistischen Gedanken wohl nicht abgeneigt, zumindest wird berichtet, dass er an einigen kommunistisch und anarchistisch motivierten Treffen teilnahm.
Kafka nannte seinen Vater einen "ausbeuterischen Geschäftsmann", erkannte aber gleichzeitig im Sozialismus eine allumfassende, fesselnde Abhängigkeit. Doch darüber hinaus sind kaum politisch motivierte Zitate von ihm bekannt.
Aus seinen Fragmenten spricht allerdings eine grundlegende Abneigung gegen Bürokratie und ein festes hierarchisches Machtsystem. Begründet liegt das wohl in seinen vielen Schreibtischarbeiten. So nannte Kafka beispielsweise die Versicherung, bei der er lange beschäftigt war, "das dunkle Bürokratennest".
Wie bei vielen bedeutenden Autoren waren Kafkas Texte zu Lebzeiten nicht sehr verbreitet. Später wurden sie dennoch verboten, obwohl er nie direkt Kritik an politischen Systemen geübt hatte.
Im Nationalsozialismus waren Kafkas Arbeiten – wie alle jüdischen Werke – verboten, ebenso im kommunistischen Tschechien. Es gab viele Parallelen zwischen den in seinen Texten dargestellten Strukturen und denen eines sozialistischen Regimes, aber Kafka bezog sich an keiner Stelle auf eine reale Situation.
Die Kafka-Konferenz oder Kampf der Systeme
Kafkas häufig verwendetes Motiv der Entfremdung war auch Leitfrage der "Kafka-Konferenz" 1963. Bei einer literarischen Tagung im tschechischen Schloss Liblice wollten Literaturwissenschaftler Kafkas Werk diskutieren und dessen Wirkung auf die sozialistischen Ostblockstaaten untersuchen.
Aus der literaturwissenschaftlichen Konferenz wurde schnell eine sehr politische Debatte. Die Teilnehmer aus der DDR sahen die Entfremdung in seinen Werken als Bezug zum Bürgertum, einige sahen in Kafka einen überzeugten Sozialisten, andere einen Kapitalisten mit demokratischen Grundideen, wieder andere lasen sein Werk als Kampf gegen Bürokratie und Dogmatismus, das Demokratie und Verantwortung lehrt.
Feststeht, dass diese Konferenz in intellektuellen Kreisen die Debatte über die verschiedenen politischen Systeme entfachte und weite Kreise zog. Kafkas Werk trug dazu bei, dass sich die Bevölkerung zwar nicht gegen den Sozialismus an sich, aber gegen die starren und bürokratischen Strukturen auflehnte.
Die Menschen forderten eine Reform hin zu einem menschlicheren Umgang und demokratischen Strukturen. Die Kafka-Konferenz wird deshalb als Anstoß für den Prager Frühling und die Demokratisierung Tschechiens angesehen.
(Erstveröffentlichung 2010. Letzte Aktualisierung 24.08.2021)