Halligen
Der Untergang von Rungholt
Um den Handelsort Rungholt auf den Halligen ranken sich viele Legenden. Demnach sollen Rungholts Einwohner unermessliche Reichtümer gehortet haben. Zur Strafe für ihre Sünden wurde der Ort vom Wasser verschlungen, erzählt die Sage.
Von Christina Lüdeke
Von Dichtern und Legendenbildung
Dieser Stoff regte die Phantasie von Dichtern, Künstlern und Schatzsuchern gleichermaßen an. Gesichert scheint lediglich, dass es den Ort Rungholt tatsächlich gegeben hat und dass er bei einer vernichtenden Sturmflut im Jahr 1362, die später den Beinamen "Große Mandränke" erhielt, im Meer versank.
Noch bis 1953 waren die Halligen immer wieder schlimmen Sturmfluten ausgesetzt. Erst danach wurden an der gesamten Küste die Deiche verstärkt und die Halligwarften erhöht.
Berühmt ist vor allem die Ballade "Trutz, Blanke Hans" von Detlev von Liliencron aus dem Jahr 1883. Liliencron schildert die Einwohner von Rungholt als "lärmende Leute, betrunkene Massen", die ihren Reichtum unmäßig zur Schau stellten. Das Gedicht beginnt mit dem Vers: "Heut' bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren" und endet ganz dramatisch:
"Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken
Und Hunderttausende sind ertrunken!
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm ander'n Tags der stumme Fisch."
Bereits 1872, also einige Jahre vor Liliencron, hatte Theodor Storm die Rungholtsage niedergeschrieben. Sie ist Teil seiner wenig bekannten Novelle "Eine Halligfahrt". Auch Storm beschreibt die Rungholter als reich. Sie seien so vermessen gewesen zu glauben, sie könnten mit ihren Deichen der Nordsee trotzen.
Storm geht jedoch noch genauer auf die eigentliche Verfehlung der Rungholter ein, wegen der ihre Stadt dem Untergang geweiht gewesen sein soll: Ein paar Männer hätten bei einem Gelage ein Schwein betrunken gemacht und anschließend einen Priester zwingen wollen, dem besoffenen Tier die Sterbesakramente zu verabreichen. Die Handlung basiert auf dem damals bekannten Werk "Sagen, Märchen und Lieder" von Karl Müllenhoff aus dem Jahr 1845.
Die Kombination aus Reichtum, Sünde, göttlichem Zorn und Naturgewalt in der Rungholt-Legende beflügelt noch bis heute die künstlerische Phantasie. So gibt es immer wieder Kunstprojekte, die sich mit dem Thema Rungholt auseinandersetzen. Beispielsweise entstand im Jahr 2001 der Episodenfilm "Der Untergang von Rungholt" der Filmemacher Victoria Schwartz und Rasmus Hirthe.
Unter dem Titel "Rungholts Ehre" ist außerdem im Jahr 2005 ein mittelalterlicher Kriminalroman des Berliner Autors Derek Meister erschienen. Hauptfigur des Buches ist der Kaufmann Rungholt. Er ist dem Untergang seiner gleichnamigen Heimatstadt nur knapp entkommen und hat seither panische Angst vor Wasser.
Schatzsucher, Heimatforscher und Wissenschaftler
Dass der Handelsort Rungholt kein reines Fantasieprodukt war, dokumentieren verschiedene Karten des Zeichners Johannes Mejer aus dem 17. Jahrhundert. Angelockt von den angeblichen Reichtümern der Stadt kamen so auch immer wieder Schatzsucher auf die Halligen, um den Ort zu entdecken. Jahrzehntelang allerdings mit wenig Erfolg.
Einzig der Heimatforscher und Landwirt Andreas Busch ging zwischen 1921 und seinem Tod im Jahr 1972 zahlreichen Spuren nach, die seiner Meinung nach die geografische Lage des Ortes Rungholt belegten. So fand er im Westen und im Süden der Hallig Südfall Deiche, Pflugfurchen, zwei Schleusen und Reste einer Kirchwarft mit Friedhof. Dies alles deutete zwar auf eine Siedlung hin. Doch die sagenumwobenen Schatztruhen der reichen Rungholter blieben verschollen.
Im Jahr 1992 machte der Ethnologe Hans-Peter Duerr mit seiner Familie Urlaub auf den Halligen. In seiner Unterkunft fiel ihm der Nachdruck einer historischen Karte von Johannes Mejer ins Auge, auf der die Lage des Handelsortes Rungholt zu sehen war.
Rungholt nach Zeichnung von Johannes Mejer (1652)
Duerr, der wenig später als Professor an die Universität Bremen gehen sollte, war fortan vom "Rungholt-Fieber" gepackt. In den folgenden Jahren sichtete er Funde, durchforstete historische Quellen und kam schließlich zu der Überzeugung, bei den Fundstellen Buschs könne es sich nicht um den Ort Rungholt gehandelt haben. Vielmehr müsse Rungholt im Norden der Hallig Südfall gelegen haben.
Im Jahr 1994 startete Duerr mit einer Gruppe Studierender per Segelschiff zu einer ersten Exkursion in die Gegend, in der er Rungholt vermutete. Prompt fand die Gruppe Hinweise auf eine frühere Besiedlung. Duerr hatte viele Kritiker bei seinem ungewöhnlichen Unternehmen.
Doch bei seinen Forschungen scheute der streitbare Ethnologe weder Auseinandersetzungen mit Behörden noch mit Kollegen oder Journalisten. In jedem Fall konnte er zahlreiche Funde vorweisen. Duerr geht davon aus, zum einen die Stiftskirche des Ortes Rungholt entdeckt zu haben, außerdem aber auch Hinweise auf eine deutlich frühere Besiedlung, die vermutlich aus der Eisenzeit stammt.
Als besonders spektakulär wertet er Funde, die auf die Hinterlassenschaften bronzezeitlicher Seefahrer hindeuten. Duerr glaubt, dass sich minoische Schiffer aus Kreta etwa im 14. Jahrhundert vor Christus auf die abenteuerliche Reise Richtung Nordsee machten, um dort Bernstein zu erwerben.
So hält Duerr es für möglich, dass nicht erst in dem versunkenen Ort Rungholt das Geschäftsleben florierte, sondern dass schon viele Jahrhunderte früher an derselben Stelle ein Handelszentrum lag.
Keramikfunde aus dem Rungholt-Walt
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 16.03.2021)
Quelle: WDR