Jakobus – die Legende
Die für den Jakobskult entscheidende Legende um den Apostel Jakobus erzählt, dass dieser nach dem Tod von Jesus Christus in Spanien lebte und das Christentum predigte. Nachdem er nach Palästina zurückgekehrt war, wurde er im Auftrag von Herodes Agrippa I. im Jahr 44 nach Christus enthauptet.
Aus Furcht vor Übergriffen legten seine Jünger Athenasius und Theodorus den Leichnam in ein Boot, das nach sieben Tagen in Galicien, im Nordwesten Spaniens, angespült wurde. Weiter im Landesinneren wurde der Apostel beerdigt. Anfang des 9. Jahrhunderts wurde Bischof Theodomir von einem Eremiten, der leuchtenden Sternen gefolgt war, zu einem Grabmal geführt. Der Bischof erkannte in den gefundenen Gebeinen jene des Apostels.
Ob die Gebeine des Heiligen Jakobus wirklich in Santiago de Compostela liegen, ist bis heute nicht bewiesen. Gewisse Zweifel bleiben, denn der Zeitpunkt der Entdeckung des Apostelgrabes Anfang des 9. Jahrhunderts war taktisch günstig: Reliquien verschafften damals einem Land oder einer Stadt Schutz und Hilfe. Darüber hinaus wuchsen Ansehen, Einfluss und Macht. Mit einer Reliquie konnten (kirchen-)politische Ansprüche durchgesetzt werden.
Die Iberische Halbinsel stand damals größtenteils unter der Herrschaft der Mauren. Nur im Norden, in den Gebirgsgegenden Asturiens, konnten sich die Christen behaupten. Das Königreich brauchte Hilfe und Unterstützung im Kampf gegen die Araber. Die Kunde vom Fund des Apostelgrabes verbreitete sich mit großer Geschwindigkeit unter den Christen.
Die von Asturien aus betriebene Reconquista – die Rückeroberung der von den Mauren besetzten Iberischen Halbinsel durch christliche Heere – bekam zunehmend Unterstützung. Darüber hinaus entwickelte sich durch den nicht endenden Pilgerstrom der Jakobusweg zur wichtigsten Handelsroute Nordspaniens und Santiago de Compostela zu einem bedeutenden Handelszentrum.
Die ersten Pilger nach Santiago de Compostela waren Adlige und hohe Geistliche wie Bischöfe und Äbte, darunter unter anderem Franz von Assisi. Doch schon bald folgte auch das einfache Volk.
Sicher gab es auch Pilger, die aus Abenteuerlust nach Santiago de Compostela wanderten oder wegen der Möglichkeit, auf diesem Weg dem tristen Alltag zu entfliehen. Für die Menschen im Mittelalter war die Küste Galiciens das "Ende der Welt": "Finisterre" nannte man diese Region auch. Keiner war je weiter gekommen.
Einer der ersten Pilger: Franz von Assisi
An das Ende der Welt
Begab sich ein Pilger auf die gefahrvolle Reise ins ferne Galicien, so musste er zuerst seine persönlichen Angelegenheiten zu Hause regeln: Die Schulden mussten bezahlt, die Familie versorgt und das Testament aufgesetzt werden. Vor der Abreise musste der Pilger beichten und danach bekam er den Pilgersegen. Ein Geleitbrief der Kirche diente als eine Art Ausweis, mit dem der Pilger auf dem Weg Einlass in die Hospize fand.
Zur Grundausstattung eines mittelalterlichen Pilgers gehörten der Pilgerstab und die Pilgertasche. Oft trug er einen Schulterumhang namens Pelerine und einen breitkrempigen Hut, um sich vor Regen und Kälte zu schützen. An seinem Stab hing eine Pilgerflasche, in der er Wasser oder Wein transportierte. Bald wurde diese Aufmachung zu einer Art Tracht, an der man den Pilger erkannte.
Erreichte der Pilger das Ziel seiner Reise, Santiago de Compostela, so verbrachte er die erste Nacht wachend und betend in der Kathedrale. In den nächsten Tagen übergab er seine Opfergaben, die er auf dem langen Weg mitgebracht hatte, und schließlich wurden ihm in einer eigenen Zeremonie seine Sünden erlassen.
Vor der Heimreise wurde dem Pilger als Zeichen seiner erfolgreichen Pilgerfahrt die Jakobsmuschel überreicht, die er sich an Hut oder Pelerine heftete. Sie war der Beweis dafür, dass der Pilger seine Reise wirklich gemacht hatte. Die Muschel verlieh dem Pilger Ansehen und Schutz. Darüber hinaus wurde ihr heilende Kraft zugesprochen. Heute ist es Mode geworden, die Jakobsmuschel schon auf dem Weg nach Santiago zu tragen.
Das Zeichen der Pilger: die Jakobsmuschel
Die Wege nach Santiago
Der Weg nach Santiago de Compostela ist ein Weggeflecht, das sich über ganz Europa zieht. Vier große Routen von Paris, Vézelay, Le Puy und Arles führen durch Frankreich. Hinter Roncesvalles und Somport in den Pyrenäen münden alle Wege in der Gemeinde Puenta de la Reina in die große Pilgerstraße, den "Camino francés", der durch den Norden Spaniens führt.
Rund 750 Kilometer sind von der französischen Kleinstadt St. Jean-Pied-de-Port am Fuße der Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela zurückzulegen. Der Jakobsweg führt durch sehr unterschiedliche Landstriche: steile Bergpässe, karge und trockene Hochebenen und drückende Tieflandregionen.
Auch in Deutschland sind noch einige Jakobuswege erhalten, andere werden restauriert: So gelang zum Beispiel 2001 die Wiederbelebung des alten Pilgerweges von Köln nach Trier. Auch von München nach Bregenz oder von Konstanz nach Freiburg kann man inzwischen wieder auf dem alten Jakobusweg wandern.
Der Jakobsweg führt durch verschiedene Gegenden
Am Ziel: die Kathedrale von Santigo de Compostela
Im berühmten Pilgerführer, dem "Codex Calixtinus" beziehungsweise "Liber Sancti Jacobi", den ein französischer Mönch um 1140 geschrieben haben soll, ist nachzulesen, dass die Pilger auf ihrer gefährlichen Reise nicht nur mit den schlechten Wegen und Krankheiten zu kämpfen hatten.
Betrügerische Wirte, falsche Priester und Straßenräuber machten ihnen das Leben schwer. Viele Pilger erreichten ihr Ziel nie und starben vorher auf dem Jakobusweg. Um so ergreifender war für jene, die es schafften, der Moment ihrer Ankunft in Santiago de Compostela.
Die Kathedrale betritt man durch den "Portico de la Gloria" – ein beeindruckendes romanisches Portal, das zu den Schönsten seiner Zeit gehört. Der Apostel Jakobus ist hier am Mittelpfeiler des Portals unter dem thronenden Jesus und seinen Evangelisten, Propheten und Jüngern abgebildet.
Oft stauen sich die Besucher am Eingang der Kathedrale. Jeder möchte seine Hand auf die Säule mit dem "Arbol de Jesé" legen. Er symbolisiert den Lebensbaum Jesu Christi und der gesamten Menschheit. Für viele ist dies einer der ergreifendsten Momente ihrer Pilgerreise.
Seit mehr als 1000 Jahren haben Millionen von Pilgern nach Wochen und Monaten der Strapazen und Entbehrungen ihre Hand an immer die gleiche Stelle gelegt, sodass hier inzwischen eine Vertiefung in Form einer Hand im Stein entstanden ist.
Im Inneren der Kathedrale ist im Altar eine übergroße Silberbüste des Apostels aufgestellt, die seine angebliche Reliquie birgt. Über eine Treppe, die hinter den Altar führt, kommt man hinter die Figur, so dass man die Jakobusfigur von hinten umarmen und küssen kann.
Die Kathedrale von Santiago de Compostela
Mancher Pilger hat das Glück, dass er an hohen Feiertagen oder zu anderen besonderen Anlässen in der Kathedrale einem ganz besonderen Spektakel beiwohnen kann: An einem 30 Meter langen Seil wird ein fast mannsgroßes Weihrauchfass aus silbernem Messing heruntergelassen und von mindestens acht Männern in Bewegung gesetzt.
Dicht über den Köpfen der Pilger schwingt das Weihrauchfass bis hoch unter die Decke der Seitenschiffe. Die dicken Weihrauchschwaden sollen früher dazu gedient haben, die heftigen Körpergerüche der Pilger zu überdecken, die auch die Nächte wachend und betend in der Kathedrale verbrachten.
Wenn der Namenstag des Apostels am 25. Juli – der nicht nur Schutzpatron der Pilger, sondern auch Nationalheiliger Spaniens ist – auf einen Sonntag fällt, feiert man in Spanien ein "Heiliges Jahr". Nur dann wird an der Ostseite der Kathedrale die an gewöhnlichen Jahren zugemauerte Puerta Santa, auch Pforte der Vergebung genannt, für die Pilger und Besucher geöffnet.
(Erstveröffentlichung 2003. Letzte Aktualisierung 17.12.2019)
Quelle: SWR