Steinkohle
Das Unglück und das Wunder von Lengede
Es war eines der schlimmsten Grubenunglücke Deutschlands: Am 24. Oktober 1963 wurde in Lengede in Niedersachsen eine Eisenerzgrube überflutet. 29 Bergleute starben, doch 14 Männer konnten in den Wochen nach dem Unglück lebend gerettet werden.
Von Philip Häusser und Jan Kischkel
Plötzlich kommt das Wasser
Lengede, 24. Oktober 1963: Der Klärteich im Bergwerk bricht ein. Fast 500.000 Kubikmeter Wasser und Schlamm strömen in den Schacht "Mathilde". Wasser flutet die Stollen – 129 Bergarbeiter rennen um ihr Leben. 79 können sich retten, 29 von ihnen ertrinken oder werden vom Gestein zerquetscht.
Eine Gruppe ist lebend verschüttet. Die Männer retten sich vorerst in einen alten Stollen. Einer von ihnen ist Adolf Herbst: Der 20-Jährige arbeitet im Bergwerk als Starkstrom-Monteur, er soll eine Pumpenkammer erneuern.
Am Tag des Unglücks will er zwei Schichten arbeiten, um den Tag darauf freizunehmen. Er will seiner Liebsten einen Antrag machen. Die zweite Schicht endet – Adolf Herbst will sich auf den Weg nach oben machen.
Doch es kommt anders. "Während ich in die Richtung des Hauptschachts ging, merkte ich, dass mir die Ohren schmerzten", erzählte Herbst viele Jahre später. Der Druck ist plötzlich angestiegen, er hört ein starkes Rauschen in der Ferne. Wasser flutet den Schacht. Bergleute kommen ihm entgegengerannt. Sie rufen: "Hau ab!"
Um den Fluten zu entkommen, springt der Monteur auf eine Untertage-Bahn auf, die sich gerade in Bewegung setzt. Doch die Bahn kommt nicht weit. Nach hundert Metern bleibt sie stehen: Kurzschluss.
Der "Alte Mann" ist die Rettung
Die Bergleute sprangen von der Bahn ab und rannten zu Fuß weiter. Adolf Herbst war erschöpft. "Mir war klar: Ohne die anderen bin ich verloren. Also Zähne zusammenbeißen und hinterher", sagte der ehemalige Bergarbeiter 2012 im Gespräch mit Planet Wissen.
Die Bergleute liefen zum Alten Mann, einem stillgelegten Teil des Bergwerks. Sie erreichten eine Anhöhe, die über dem Wasserspiegel lag. Das rettete ihnen fürs erste das Leben. "Wir ließen uns einfach fallen – die Erschöpfung war zu groß", sagt Herbst.
Der Wasserpegel stieg an. Das Wasser versperrte den Bergleuten den Weg. Sie waren in der kleinen Höhle gefangen. In den kommenden Tagen starben zehn der Männer durch herabfallendes Gestein.
Die Hoffnung aufgeben wollten die Männer jedoch nicht. Immer wieder riefen und klopften sie. Aber tagelang hörte sie niemand. "Wir hatten das Gefühl für Zeit inzwischen völlig verloren", sagt Herbst. "Auf einmal fing einer von uns an zu brüllen."
Von oben kam Wasser. "Ich dachte, jetzt ertrinken wir", sagt Herbst. "Einer der Kollegen griff mit der Hand in die Luft und berührte ein Metall." Die Männer begriffen: Die bohren nach uns!
Adolf Herbst 35 Jahre nach dem Grubenunglück
"Das war wie Weihnachten und Ostern auf einmal"
Die Bergleute schrien so laut sie konnten, klopften mit einem Messer gegen das Metallrohr – und die Helfer hörten die Bergarbeiter tatsächlich.
Durch das Rohr ließen sie eine Taschenlampe mit einem Zettel daran herunter. Auf dem Zettel stand: "Wie viele seid ihr?" Die Männer antworteten: "Zehn Mann, wir haben Durst und Hunger, schickt uns Zigaretten!" Die Retter schickten Tee. "Vermutlich mit Beruhigungsmitteln", sagte Adolf Herbst später.
Noch aber waren die Männer nicht gerettet. Erst musste noch der endgültige Rettungsschacht gebohrt werden. Übertage arbeiteten 900 Leute Tag und Nacht daran, die Bergleute zu retten.
Doch nach 40 Metern konnten sie nicht mehr weiterbohren. Zumindest nicht mithilfe einer Wasserspülung. Wegen des Wasserdrucks wäre die Gefahr für Steinschläge zu hoch gewesen. Bis zu den Bergleuten fehlten noch weitere 18 Meter – die Höhle lag in einer Tiefe von 58 Metern. Fortan mussten die Helfer mit Luft weiterbohren statt mit Wasser.
Sonderschichten für die Rettung
Es stand jedoch kein ausreichend starker Kompressor zur Verfügung, was die Rettung ins Stocken brachte. Ein geeignetes Gerät fanden die Retter in Belgien, sagt Adolf Herbst. "Autobahnen wurden gesperrt, damit der neue Kompressor schnellstmöglich durchkam."
Nach zwei Wochen stieß die Bohrkrone endlich durch. Die Bergleute waren am Ende ihrer Kräfte. Daher kamen zunächst zwei Steiger zu ihnen nach unten, um sie medizinisch zu versorgen.
Schließlich war es am 7. November 1963 soweit: Elf Bergleute wurden in einer engen Rettungskapsel namens "Dahlbuschbombe" ans Tageslicht gebracht. Dass zwei Wochen nach dem Unglück tatsächlich noch Überlebende gerettet werden konnten, ging als "Wunder von Lengede" in die Geschichte ein.
Die Helfer holten die Männer einzeln nach oben. "Ich durfte als Vierter hoch: Ein unglaubliches Gefühl", erinnerte sich Adolf Herbst später. "Ich dankte Gott: Er hatte mir ein zweites Leben geschenkt."
Nach 14 Tagen wurden elf Menschen lebend aus 60 Metern Tiefe geborgen
Die Verlobung kann stattfinden
Adolf Herbst hatte den Glauben an die geplante Verlobung schon fast verloren. Auf dem Weg nach oben merkte er: "Die Verlobung klappt!" Wieder über der Erde konnte er seine Freundin endlich wiedersehen.
Nach dem Unglück hat Herbst nie wieder ein Bergwerk betreten. Auch in engen Räumen konnte er nicht mehr arbeiten. Eine Zeit lang war er arbeitsunfähig. Bis er eine Ausbildung zum Elektromeister absolvierte und später sogar eine ganze Werkstatt übernahm.
Bis heute kommen die Gefühle bei ihm immer wieder hoch, wenn er die Bilder von damals sieht: "Die Emotionen sind sofort wieder da, die unglaubliche Atmosphäre in unserem Gefängnis untertage, die nicht enden wollenden Sekunden, Minuten, Stunden und Tage voller gemischter Gefühle. Die Hoffnung hat mich am Leben gehalten."
Jedes Jahr feiert Adolf Herbst am 7. November seinen zweiten Geburtstag. Es ist der Tag seiner Rettung. Mit seiner damaligen Verlobten Dagmar ist er bis heute verheiratet.
Freudiges Wiedersehen mit seiner Verlobten Dagmar
(Erstveröffentlichung 2012. Letzte Aktualisierung 29.09.2023)
Quelle: SWR/WDR