Woher kommt die Lust am Risiko?
Planet Wissen. 10.12.2019. 02:31 Min.. Verfügbar bis 10.12.2024. SWR.
Extremsport
Erkenntnisse aus der Wagnisforschung
Menschen klettern auf die höchsten Berge, durchqueren die Antarktis oder balancieren über Canyons auf dünnen Hochseilen. Wer etwas wagt, lebt gefährlich, sollte man meinen. Doch Erkenntnisse aus der Wagnisforschung legen das Gegenteil nahe. Warum?
Von Frank Drescher
Ein Wagnis hat immer auch einen Nutzen für andere
Der Angriff passiert in der Nacht zum 19. Oktober 1977: Schüsse peitschen durch die Kabine der entführten Lufthansa-Maschine, abgegeben von Beamten einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes. Am Ende sind drei Terroristen tot und rund 90 Geiseln befreit. Die "Operation Feuerzauber" in Mogadischu hätte auch schief gehen können, der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt war auf einen Rücktritt gefasst.
Doch das Wagnis glückte, die Spezialeinheit GSG 9 begründete damit ihren legendären Ruf, ihr Kommandeur Ulrich Wegener erhielt das Große Bundesverdienstkreuz.
Kanzler Schmidt gratuliert dem Kommandeur der GSG 9 und seinen Männern für den Einsatz in Mogadischu 1977
"Ein Wagnis hat immer eine ethische Qualität", sagt der Wagnisforscher und Planet-Wissen-Studiogast Professor Siegbert Warwitz, im Gegensatz zum Risiko. "Einen Unfall wagt man nicht, den riskiert man", sagt er.
Bewusst eingegangene Risiken sind demnach sogar unethisch: Das VW-Management hat mit der Diesel-Abschaltvorrichtung nichts gewagt, aber sehr viel riskiert.
Wer dagegen ein Wagnis eingehe, so Warwitz, stifte immer auch einen Nutzen für andere. Oft nehmen diejenigen, die ein Wagnis eingehen, dabei auch schwere Nachteile für sich selbst in Kauf.
So wie Katrin Hattenhauer, die in einer früheren Planet-Wissen-Ausgabe zu Gast war. Als 18-Jährige war sie bei den ersten Großdemonstrationen des Wendeherbstes 1989 in Leipzig mit dabei. Vor den Kameras der Weltpresse breitete sie mit Mitstreiterinnen ein Transparent aus mit der Aufschrift "Für ein off'nes Land mit freien Menschen".
Die Reaktion: Misshandlung durch Agenten der Staatssicherheit und mehrere Wochen Knast. Doch am Ende gab auch ihr Wagnis einen Anstoß zum Untergang der SED-Diktatur.
Demonstration in der DDR - für die Beteiligten ein großes Wagnis
Die Geschlechter wagen unterschiedlich
Wie Siegbert Warwitz feststellte, wagen die Geschlechter unterschiedlich: "Mädchen und Frauen wagen mehr auf sozialem Gebiet, sie zeigen mehr Zivilcourage", so ein Ergebnis seiner Untersuchungen. Bei Konflikten greifen sie eher ein, ihr Leitgedanke ist: "Da muss jemandem geholfen werden."
Auch trauten sie sich eher die Beherrschung der Gefahren zu, die von großen Tieren wie Pferden ausgehen. Jungen und Männer dagegen neigten zu anderen Arten von Wagnissen, etwa im sportlichen Wettkampf. In Konfliktsituationen, in denen Zivilcourage gefordert ist, fragten sie sich hingegen zunächst, ob sie selbst sicher seien, bevor sie eingriffen.
Wer wagt, setzt sich im Evolutionsprozess durch
Wer ein Wagnis eingeht, so die These, suche keinen oberflächlichen Nervenkitzel, sondern folge einer Berufung und suche die Vervollkommnung seiner selbst. Darum setzten sich die Wagemutigen auch im Evolutionsprozess durch. Wer Wagnisse eingeht, habe demnach kein gesteigertes Risiko, sich durch frühes Ableben vorzeitig aus dem Genpool zu verabschieden.
Auch im Tierreich zeige sich: Die Alphatiere sind die aggressiven. Die Gene der Feigen gingen verloren, die Mutigen werden fortgepflanzt. "Wer Risiken ausweicht, wird Mittelmaß", sagt Warwitz.
Männer suchen das Wagnis häufig im sportlichen Wettkampf
Durch ein Wagnis zum Nobelpreisträger
Das zeigt auch die Geschichte von Werner Forßmann: 1929 zog der junge Arzt Hohn und Spott der etablierten Medizin auf sich, und er verlor seine Stelle an der Berliner Charité. Alles nur wegen seiner "Zirkusnummer", wie es sein Chef, der berühmte Ferdinand Sauerbruch nannte.
Forßmann hatte mit einem Röntgenbild von sich selbst für viel Aufsehen gesorgt. Darauf war ein Schlauch in seinem Herzen zu sehen, den er sich durch eine Vene selbst eingeführt hatte.
Nach seiner Entlassung verließ er Berlin und geriet in Vergessenheit – bis 1956. Da erreichte ihn ein Brief aus Schweden: Für seine Erfindung des Herzkatheders erhielt er den Medizin-Nobelpreis.
Wer wagt gewinnt: Der Arzt Werner Forßmann bekam den Nobelpreis
Vollkasko-Mentalität lähmt eine Gesellschaft
Siegbert Warwitz, der seit Jahrzehnten über das Wagnis forscht, beobachtet, dass die Wagnisbereitschaft in unserer Gesellschaft abnimmt. Er betrachtet die sich breit machende Vollkasko-Mentalität kritisch. "Risikokompetenz muss erworben und erlernt werden. Eine Gesellschaft degeneriert ohne Wagnisbereitschaft. Fehlt der Mut zum Wagnis ist sie nicht in der Lage Reformen durchzuführen oder beispielsweise Korruption zu bekämpfen."
Siegbert Warwitz
Quelle: SWR | Stand: 05.12.2019, 16:00 Uhr