Herr Klatt, wie genau funktioniert das Projekt "Natur nah dran"?
Alle Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg wurden eingeladen, sich unkompliziert um eine finanzielle Förderung zu bewerben, um ihre Grünanlagen im Sinne der biologischen Vielfalt aufzuwerten. Dafür konnten sie maximal 15.000,- Euro vom Umweltministerium bekommen. Diese Bewerbungsrunden starteten jeweils im September der Jahre 2016 bis 2019, insgesamt haben sich 229 Gemeinden beworben.
Wie sehen diese neuen Grünflächen aus?
Der wichtigste Faktor ist die Pflanzung oder Aussaat von Wildpflanzen aus regionaler Herkunft. Unsere Insekten haben sich im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte über Jahrtausende eng an die hiesige Pflanzenwelt angepasst. Wenn wir ihnen zum Beispiel mit einem besseren Blütenangebot helfen wollen, hat es keinen Sinn, gezüchtete Sorten von Gartenpflanzen oder Pflanzen fremdländischer Arten anzubieten, denn mit diesen kann die Vielzahl spezialisierter Wildbienen und Schmetterlinge wenig bis gar nichts anfangen.
Wie sieht Ihre Aufgabe bei der Umsetzung des Projektes aus?
Bei den Auftakt-Schulungen für die Gemeinden und bei den Workshops zur Neuanlage und zur Pflege der Flächen ist es meine Aufgabe, die Hintergründe zum Projekt zu vermitteln, den Beitrag für die biologische Vielfalt zu erklären. Den praktischen Teil dieser Schulungen übernehmen Fachleute aus der Naturgarten-Branche. Zudem ist unser Team von "Natur nah dran" auf Tagungen, Vortragsveranstaltungen, auch Gartenschauen unterwegs, um für die naturnahen Grünflächen im Siedlungsraum zu werben.
Wie schwer war es, die Leute für so etwas wie Wildblumenwiesen in der Stadt zu begeistern?
Einerseits verstehen die Menschen heute sehr wohl, dass die Natur in einer tiefen Krise steckt. Das "Insektensterben" ist in aller Munde. Andererseits müssen wir viel Überzeugungsarbeit leisten, um zu erklären, dass Wechselflor-Beete oder bunt blühende Saatmischungen aus fremdländischen Arten keine Hilfe für unsere gefährdete Insektenwelt sind. Viele Saatmischungen blühen zwar knallbunt und verheißen im Namen paradiesische Zustände für Schmetterlinge und Bienen, sie greifen aber den gefährdeten Arten nicht "unter die Flügel".
Wildblumenwiesen werden nur zweimal im Jahr gemäht, sehen bis zur Mahd oft struppig aus und passen nicht auf Anhieb in das Bild des "ordentlichen" Gartens. Für das regelmäßige Aussamen der Pflanzen und natürlich für eine langfristige Nahrungsgrundlage für die Tiere ist diese behutsame Art der Pflege für die Blumenwiesen und Staudensäume notwendig. An diese andere Art des "Siedlungsgrün" haben sich die Menschen noch längst nicht überall gewöhnt.
Wie wichtig und wie erfolgreich sind solche Projekte für die Artenvielfalt?
Wir müssen mehr Natur zulassen! Das gilt in der offenen Landschaft ebenso wie für unsere Städte und Dörfer. Dort haben die Grünflächen ein enormes Potenzial für die Entwicklung artenreicher Lebensräume, sie sind "Naturerwartungsland". Und zahlreiche Untersuchungen zeigen es deutlich: Naturnahe Flächen mit einem vielfältigen Angebot an Wildpflanzen bieten selbst seltenen und gefährdeten Tierarten Nahrung und Lebensraum. Jeder Quadratmeter zählt!
Die Laufzeit des Projektes ist fünf Jahre, von 2016 bis Ende 2020. Wie ist die Bilanz?
Da gibt es natürlich die neu gestalteten Flächen selbst, die eine Bereicherung für die biologische Vielfalt sind. Mir scheint es aber noch wichtiger zu sein, dass diese Anlagen für ein Umdenken sorgen. Viele Menschen interessieren sich dafür, fragen, wie solche Flächen angelegt werden und möchten so etwas auch im eigenen Garten machen.
Zudem gestalten die "Natur nah dran"-Gemeinden weitere Flächen um, so dass es nicht bei dem Programm bleibt, für das es ursprünglich die Fördergelder gab. Und es gibt mehr und mehr Städte und Gemeinden, die sich verstärkt für die biologische Vielfalt engagieren wollen. "Natur nah dran" motiviert zur Nachahmung, zieht immer weitere Kreise.
Was glauben Sie, wird bleiben, wenn dieses Projekt "Natur nah dran" beendet ist?
Ich glaube, dass immer mehr verstanden wird, wie wichtig Lebensräume für Tiere und Pflanzen auch in unseren Siedlungen sind. Wir sehen, dass nicht nur die öffentlichen Grünflächen umgestaltet werden. Auch in privaten Gärten wird Raum für mehr Natur gelassen und geschaffen. Die Unsitte der Schotterwüsten sehe ich als sinnfreien Modetrend, der nicht von Dauer ist. Ich sehe auch, dass die enormen Grünflächen in Industrie- und Gewerbegebieten zunehmend in Lebensräume verwandelt werden, statt weiterhin sterile Rasenflächen zu sein.
Hier gibt es ermutigende Beispiele, die bereits in der "UN-Dekade der biologischen Vielfalt" ausgezeichnet wurden. Es ist zwar noch ein weiter Weg, doch ich bin davon überzeugt, dass in Zukunft nicht mehr Rasen und Kirschlorbeer der Normalfall sind. Wildblumenwiesen mit Flockenblume und Salbei, Staudenfluren mit Karde und Königskerze werden das Siedlungsgrün prägen.